Dr.in Nida Al, klinische Psychologin, Fakultät für Psychologie der Universität Wien,
L’Oréal-UNESCO – „For Women in Science“ Preisträgerin
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„It’s not about being the smartest person in the room, but to be the most curious“, ist der Tipp der kanadischen Wissenschaftlerin Dr.in Nida Ali an alle, die sich für Forschung interessieren. Dr. Ali ist eine von vier Nachwuchswissenschaftlerinnen, die mit dem L’Oréal-UNESCO – „For Women in Science“ – Förderpreis 2025 geehrt wurden. Im Interview spricht sie über ihre Forschungsergebnisse und erklärt, wie die Erkenntnisse über die Alpha-Amylase-Aufwachreaktion dazu beitragen, Stress in Zukunft besser zu erkennen und stressbedingte Krankheiten zu vermeiden.
Interview von Julia Weinzettl
„Forschung gehört seit den Anfängen zur Identität von L’Oréal“, sagt Edzard Meenen, Country Coordinator & Market Director Consumer Products bei L’Oréal Österreich über die Motivation des Unternehmens, Forscherinnen zu unterstützen. Gegründet wurde L’Oréal vor mehr als hundert Jahren von dem Chemiker Eugène Schueller, dessen erste Haarfarbe direkt aus einem Forschungslabor stammte. Diese Verbindung von Wissenschaft und Innovation prägt die Unternehmensphilosophie bis heute. Mehr als 4.000 Forscher:innen sind bei L’Oréal derzeit beschäftigt. Aus diesem Selbstverständnis heraus entstand auch die Initiative For Women in Science, die L’Oréal gemeinsam mit der UNESCO vor 19 Jahren ins Leben gerufen hat. Ziel ist es, Frauen für wissenschaftliche Karrieren zu begeistern und sie darin zu bestärken, der Forschung langfristig treu zu bleiben. Dank der Unterstützung des österreichischen Wissenschaftsministeriums zähle das Programm zu den bedeutendsten weltweit, so Meenen. Dr.in Nida Ali etwa zeigt mit ihrer Arbeit eindrucksvoll, wie exzellente Forschung unabhängig von Unternehmensinteressen neue Perspektiven auf Gesundheit und Stress eröffnet.
Dr. Ali, könnten Sie kurz erklären, was die Alpha-Amylase-Aufwachreaktion ist und warum sie als vielversprechender Biomarker für die Stressregulation gelten könnte?
Dr.in Nida Ali: Wenn wir vor einer Herausforderung stehen – etwa einem Vorstellungsgespräch –, aktivieren sich im Körper zwei Stresssysteme, die Energie bereitstellen: die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), die über das Hormon Cortisol wirkt, und der Sympathikus, der die sogenannte „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion steuert. Die Alpha-Amylase im Speichel (sAA) ist ein nicht invasiver Marker für den Zweig des Sympaticus. Diese beiden Stresssysteme unterstützen auch das Aufwachen und den Übergang der Schlaf- zu Wachphase. Interessant ist allerdings, dass es in diesem Zusammenhang eine Abweichung gibt: Während der Cortisolspiegel typischerweise ansteigt, nimmt die Alpha-Amylase ab. Meine Forschung untersucht, warum dieser Rückgang eine sinnvolle Reaktion des Körpers sein könnte und welche alltäglichen Faktoren – etwa Schlafqualität oder körperliche Aktivität – seinen Verlauf beeinflussen. Wir untersuchen die Schlafqualität, die körperliche Betätigung am Vortag und – bei Frauen – mögliche Auswirkungen des Menstruationszyklus darauf, wie stark die Alpha-Amylase nach dem Aufwachen sinkt. Die Kernidee ist, dass zwar jeder Mensch diese Reaktion zeigt, aber ihre Ausprägung kann vorhersagen, wie stressempfindlich der jeweilige Tag sein wird.
Wie ergänzt oder unterscheidet sich die Messung von Speichel-Alpha-Amylase von anderen physiologischen Stressindikatoren wie Cortisol oder Herzfrequenzvariabilität?
Dr.in Nida Ali: Jeder dieser biologischen Werte zeigt uns einen anderen Teil der Stressreaktion: Cortisol steht für das hormonelle Stresssystem, während die Alpha-Amylase die Aktivität des Nervensystems widerspiegelt, die den Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Wenn man beide zusammen misst und zusätzlich Werte wie Herzfrequenz oder Herzfrequenzvariabilität betrachtet, bekommt man ein viel vollständigeres Bild davon, wie der Körper auf Stress reagiert. Außerdem untersuchen wir, wie das Immunsystem mit diesen Stresssystemen zusammenwirkt.
Inwiefern könnte ein präziseres Verständnis der Alpha-Amylase-Aufwachreaktion die Diagnose oder Behandlung von Störungen des autonomen Nervensystems verbessern?
Dr.in Nida Ali: Unsere Ergebnisse zeigen, dass die beiden Stresssysteme eng zusammenarbeiten, sich aber je nach Lebenserfahrungen unterschiedlich stark beeinflussen. Frühe Belastungen, etwa aus der Kindheit, können dieses Zusammenspiel verändern und das Risiko für Depressionen im späteren Leben erhöhen. Wichtig ist jedoch: Das ist kein festgelegtes Schicksal. Der Körper bleibt veränderbar. Wenn wir solche Ungleichgewichte früh erkennen, können wir rechtzeitig gegensteuern und die Entwicklung in Richtung Gesundheit und Stabilität lenken.
Ihre Forschung verknüpft Alltagsstress mit biologischen Mechanismen. Welche praktischen Implikationen ergeben sich für Klinik, Arbeitsgesundheit oder das mentale Wohlbefinden?
Dr.in Nida Ali: Prävention ist der Leitstern. Wenn wir wissen, wie „gesunde“ Interaktionen aussehen, lassen sich Abweichungen früher erkennen, und zwar idealerweise bevor Burn-out oder stressbedingte Erkrankungen entstehen. Das eröffnet gezielte Schlaf- und Bewegungsinterventionen, Stressmanagement oder Psychotherapie zu biologisch sinnvollen Zeitpunkten.
Wie könnten Ihre Erkenntnisse zu einer stärker personalisierten Stressbewältigung oder zur Früherkennung stressassoziierter Erkrankungen beitragen?
Dr.in Nida Ali: So wie Wearables Herzfrequenzmessung normal gemacht haben, könnte ein ähnliches Ökosystem künftig einfache Speicheltests mit physiologischen Signalen kombinieren, um Trends statt Einzelschnappschüsse zu verfolgen. Doch soweit sind wir derzeit noch nicht: Zuerst benötigen wir robuste Verfahren, um Informationen aus mehreren Markern klinisch sinnvoll zu extrahieren und zu interpretieren. Der Weg weist aber klar in Richtung personalisierte, Früherkennung. Wir hoffen dadurch stressbedingte Krankheiten, wie Burnout oder Depression, vermeiden zu können.
Was motiviert Sie, sich mit dem Zusammenspiel von Körper und Psyche im Zusammenhang mit Stress zu beschäftigen?
Dr.in Nida Ali: Mich fasziniert, dass Menschen auf ähnliche Situationen so unterschiedlich reagieren. Stress spielt dabei oft eine Schlüsselrolle. Deshalb untersuche ich, wie sich seelisches Erleben in körperlichen Reaktionen widerspiegelt, etwa in Hormonen, Herzaktivität oder Speichelwerten. So entsteht ein umfassendes Bild davon, wie Belastung und Widerstandskraft miteinander verbunden sind.
Sie wurden gerade mit dem for Women in Science Award ausgezeichnet. Warum ist Ihnen die Förderung von Frauen in der Wissenschaft ein besonderes Anliegen?
Dr.in Nida Ali: Weil talentierte Frauen in der Wissenschaft oft auf strukturelle Hürden stoßen. Die akademische Laufbahn schafft es noch nicht, ihren Ausstieg verlässlich zu verhindern. Deshalb sind Plattformen, Mentoring, Netzwerke und gezielte Maßnahmen so wichtig, damit hervorragende Wissenschaftlerinnen sichtbar bleiben und ihr Potenzial voll entfalten können.
About:
Dr.in Nida Ali ist klinische Psychologin und Postdoktorandin an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der Verbindung zwischen Stress und Gesundheit, insbesondere damit, wie das autonome, hormonelle und immunologische System auf Belastung reagiert und wie sich diese Prozesse auf das psychische Wohlbefinden auswirken. Nach ihrem Studium der Psychologie und Kriminologie an der University of Toronto promovierte sie an der McGill University in Montreal in klinischer Psychologie und arbeitete dort im Bereich Psychiatrie und Verhaltensmedizin. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit kombiniert sie psychologische Tests, physiologische Messungen und biologische Marker, um zu verstehen, warum Menschen unterschiedlich auf Stress reagieren.
Dr.in Ali wurde 2025 mit dem L’Oréal-UNESCO For Women in Science Award ausgezeichnet. Ihr Ziel ist es, neue Wege zu finden, um Stress früher zu erkennen, psychische Erkrankungen besser zu verstehen und die Resilienz von Menschen zu stärken.
Interview mit Dr. Nida Ali



