Kollaborationsingenieur ist ein neuer Job, den wir demnächst benötigen,
sagt Martin Schiefer, Gründer und Partner der Kanzlei Schiefer Rechtsanwälte

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Die Welt wird sich in eine analoge und eine digitale Welt trennen, sagt Vergaberechtsanwalt Martin Schiefer. In der analogen Welt sitzen die Entscheider, dort werden Beziehungen gepflegt, Verhandlungen geführt und Verantwortung übernommen. In der digitalen Welt werden Inhalte präzise vorbereitet. Tätigkeiten, für die man früher viel Zeit gebraucht hat, werden automatisiert. Für diese Entwicklung bereitet man sich bei Schiefer Rechtsanwälte vor, das Training der Kollaborationsingenieure hat schon begonnen.

Interview von Julia Weinzettl

80 % der Anwaltstätigkeiten fallen in Zukunft weg, erklärt Martin Schiefer, und bezeichnet seine Schätzung bereits als konservative Kalkulation. Die Tätigkeiten vieler Juristen, insbesondere jener mit breit gefächertem Dienstleistungsangebot, werden künftig durch den Einsatz von KI entfallen, davon ist der Rechtsanwalt überzeugt. Die Zukunft des Anwaltsberufs sieht er in der Spezialisierung auf komplexe Spezialgebiete. In seiner eigenen Kanzlei agiert er als Stratege und stellt bereits frühzeitig die Weichen für kommende Entwicklungen. So arbeitet ein kleines Team seit sechs Monaten in einer KI-Sandbox, um im geschützten Raum Legal Tech-Anwendungen auszuprobieren, zu verknüpfen und zu lernen. Mit diesem Wissen werden demnächst alle Mitarbeitenden der Kanzlei ausgestattet. Doch bei KI-Anwendungen endet die Ausbildung nicht. Die analoge Welt ist ebenso wichtig. Schiefers Mitarbeiter werden auch regelmäßig in Verhandlungstechniken geschult. Denn Entscheidungen werden auch in Zukunft im menschlichen Miteinander getroffen, nur strukturierter, klarer und persönlicher.

Welchen Job wird es im juristischen Bereich in Zukunft geben, der heute noch keinen Namen hat?

Martin Schiefer: Ich nenne es den Kollaborationsingenieur. Als Jurist nur juristische Quellen zu kennen, ist mittlerweile zu wenig. Man muss sich auch auf Legal-Tech verstehen. Das bedeutet, dass man sich digitale Technologien und Anwendungen, die juristische Tätigkeiten automatisieren oder verbessern, zunutze machen und natürlich auch gezielte KI-Promptings verfassen kann. Ziel ist es, den Rechtszugang zu erleichtern, Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten und neue rechtliche Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Man müsste mittlerweile Entwickler, Mathematiker und Jurist sein. Daher arbeiten wir daran, unsere Mitarbeitenden so auszubilden, dass sie mit diesen Anwendungen sicher umgehen und sie sinnvoll kombinieren können. Dieses Zusammenspiel bezeichnen wir als transmediale Kommunikation, die Grundlage für das Berufsbild des Kollaborationsingenieurs.

Du hast eine Sandbox eingerichtet, um KI-Anwendungen zu erproben. Was genau testet ihr dort, und welchen Mehrwert bringt sie eurer Kanzlei?

Martin Schiefer: Wir haben gemeinsam in einem kleinen Team mit einem Organisationsentwickler, einer KI-Expertin und zwei jungen Mitarbeiterinnen eine eigene Sandbox aufgesetzt. In dieser kontrollierten Testumgebung können wir KI-Systeme oder -Anwendungen sicher entwickeln, testen und evaluieren, ohne unerwünschte Effekte oder reale Schäden zu verursachen. Alle Teilnehmenden haben eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnet und sich zur ausschließlichen Nutzung der Inhalte innerhalb der Sandbox verpflichtet, um rechtliche Komplikationen zu vermeiden. In diesem Setting experimentieren wir mit verschiedenen Tools und integrieren sie in unsere Prozesse. Die Mitarbeiterschulungen haben wir im Mai gestartet, sodass unsere Anwärter im Herbst bereit sind, den Titel Kollaborationsingenieur zu tragen.

Du sprichst in diesem Zusammenhang von Secret Cyborgs. Was kann man sich darunter vorstellen?

Martin Schiefer: Das sind Personen, die im Arbeitskontext KI-Tools verwenden, ohne dass der Arbeitgeber davon weiß. Das passiert heute ständig, meist aus praktischen Gründen: Wer sich einmal an die Effizienz solcher Tools gewöhnt hat, möchte sie nicht mehr missen. Doch genau das ist gefährlich, besonders im juristischen Bereich. Denn es geht nicht nur um Datenschutz, sondern auch um Haftung und Verlässlichkeit unserer Arbeitsergebnisse.

Daher bringen wir unsere Mitarbeitenden, derzeit Konzipienten und Studenten, in kontrollierte Settings und schulen sie in der präzisen Verwendung der KI-Tools für ihren speziellen Arbeitsbereich. Wir reichern dadurch die bereits bestehenden Fähigkeiten im Prompting durch gezielte Trainings an und erweitern das Wissen um die Verwendung und Integration spezieller Legal-Tech-Tools.

Wie werden die Mitarbeiter für das Schulungsangebot ausgewählt?

Martin Schiefer: Ursprünglich wollten wir unsere erfahrenen Rechtsanwälte nicht mehr schulen, sondern die jungen Leute schneller machen. Doch dann haben wir uns an einer Studie von PwC orientiert, die besagt, dass langjährige Mitarbeitende mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissensschatz ebenfalls geschult werden sollten. Denn sie verbessern dadurch ihre eigenen Ergebnisse und können die Resultate auch verifizieren. Das ist deshalb wichtig, weil die KI immer wieder halluziniert, also selbst erfundene Ergebnisse bringt. Durch diese Verifizierung lernt natürlich auch das KI-System und verbessert die Ergebnisse bei den Recherchetätigkeiten der Juniors.

Wird die gezielte Anwendung der KI analoge Begegnungen verdrängen?

Martin Schiefer: Ganz im Gegenteil. Das Zwischenmenschliche ist ebenso wichtig wie das Virtuelle. Die KI liefert informiertere, präzisere Informationen, vereinfacht die Recherche und bringt Vorschläge, doch die Entscheidungen treffen nach wie vor Menschen. Das bedeutet aber auch, dass man als Jurist Verhandlungsskills erwerben muss. Und zwar vermutlich auf noch höherem Niveau, als das jetzt der Fall ist. Wenn im KI-Zeitalter Menschen zusammentreffen, sind die Fakten klar, was zählt, ist dann das Verhandlungsgeschick. Durch Corona haben sich viele Erwartungen an die Zusammenarbeit verändert. Flexiblere Strukturen, virtuelle Meetings und mehr digitale Kommunikation bringen zwar Vorteile mit sich. Doch genau dort, wo es auf zwischenmenschliches Gespür ankommt, wie in langen komplexen Verhandlungen, stoßen virtuelle Formate an ihre Grenzen. Einerseits geht die Konzentrationsfähigkeit verloren, andererseits sind subtile menschliche Regungen nicht wahrnehmbar, die für eine gute Verhandlung unerlässlich sind. Sich diese Fähigkeiten anzueignen ist eine Trainingssache. Deshalb haben wir in unserer Kanzlei den Legal Slam ins Leben gerufen: ein Fortbildungsformat, das alle drei Monate stattfindet und bei dem wir von echten Spitzenkräften lernen. Die behandelten Themen sind dabei ebenso vielfältig wie aktuell. Das Spektrum reicht vom Erste-Hilfe-Kurs über, vereinfacht gesagt, einen modernen Etikette-Workshop bis zu den Feinheiten der Verhandlungstechnik, für die wir eigens in Harvard geschulte Coaches einladen. So stellen wir sicher, dass unsere Kolleginnen in anspruchsvollen Verhandlungssituationen sicher und souverän agieren können.

Wo reüssieren die Menschen in analoger Weise außer in der Verhandlungssituation?

Martin Schiefer: Da ist zum einen die Neugier und Kreativität der Menschen, die sie antreibt und durch die sich neue Entdeckungen offenbaren. Und dann gibt es noch das Absurde. Die Eigenwilligkeit, etwas trotzdem zu tun, auch wenn es rational keinen Grund gibt. Keine KI rät zu solchen Unterfangen. Ins Weltall zu fliegen etwa, obwohl die Überlebenschancen sich nicht bei 99 % befinden. Die Abenteuerlust, etwas Verrücktes, Irrationales zu wagen, aus dem dann etwas vollkommen Neues entstehen kann. Mut und Offenheit, sich auf den Zufall einzulassen, werden immer die wichtigsten Attribute der Menschen bleiben. Deshalb: Bleiben wir bitte neugierig. Egal, wie alt wir sind.

About:
Martin Schiefers Credo heißt: Vergaberecht „neu“ denken. Er ist Gründer und Partner der Kanzlei Schiefer Rechtsanwälte mit dem Schwerpunkt auf Ausschreibungen, insbesondere in den Bereichen Digitalisierung, Infrastruktur, Gesundheit und Energieversorgung. Sein rechtswissenschaftliches Studium absolvierte er an der Universität Graz. Als Influencer ist er in der Vergabeszene bestens vernetzt und teilt seine innovativen Perspektiven laufend mit der Community als Top-Speaker und in seinem eigenen Vergabepodcast.